Im Interview spricht Franziska Brantner MdB über ihre Hoffnung, dass die neue Bundesregierung die Europapolitik neu ausrichtet. Prioritäten sollten dabei der Green New Deal, die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und die Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU haben.
Erst einmal herzlichen Glückwunsch! Du hast in Heidelberg ein Direktmandat für die Grünen geholt, das erste in Baden-Württemberg überhaupt. War bei dir im Wahlkampf vor Ort Europapolitik überhaupt ein Thema?
Franziska Brantner: Danke! Europa war bei uns vor Ort immer wieder Thema. Ich habe auf meiner Baden-Württemberger Aufbruchstour mehrfach darüber gesprochen, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit nur gemeinsam lösen können. Das gilt natürlich für die Klimakrise, wo die Bürger*innen erwarten, dass Europa auf dem Weg zur Klimaneutralität vorangeht. Das gilt aber auch für die Corona-Krise, wo wir ganz konkret erlebt haben, wie europäische Solidarität aussieht, als Krankenhäuser in Baden-Württemberg Patient*innen aus dem Elsass aufgenommen haben. Oder bei Fragen der Digitalisierung und beim grenzüberschreitenden Verkehr, z.B. ist das Interesse an einem europäischen Nachtzugnetz riesig. Europa spielt im Alltag der Menschen eine wichtige Rolle!
Insgesamt spielte Europa im Wahlkampf aber kaum eine Rolle. Warum nicht?
Europa bekam im Wahlkampf nicht den Stellenwert, den es in der realen Politik hat. Die CDU hat sogar versucht, das Thema negativ zu besetzen, z.B. mit dem Kampfbegriff "Schuldenunion" . Es ist leider ein Armutszeugnis für die Partei von Helmut Kohl und Konrad Adenauer, Europa für Angstmacherei zu missbrauchen. Das hat nicht verfangen. Aber es stimmt, insgesamt war es ein sehr auf die Innensicht und Innenpolitik fokussierter Wahlkampf.
Die gute Botschaft für Europa ist, dass bei der Wahl nur proeuropäische demokratische Parteien hinzugewonnen haben.
Auch wenn in Deutschland nicht viel über Europa gesprochen wurde, so haben die europäischen Partner den Wahlkampf und den Wahlausgang doch sehr genau beobachtet. Welche Botschaft spricht aus deiner Sicht aus dem Wahlergebnis?
Die gute Botschaft für Europa ist, dass bei der Wahl nur proeuropäische demokratische Parteien hinzugewonnen haben. Die AfD, in Deutschland die einzige antieuropäische Kraft, hat dagegen verloren. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist dieses Wahlergebnis ein kraftvolles Statement für Europa. Die Herausforderung ist, wie überwinden wir die Merkel’sche Verwaltungspolitik, die Krisen managt, aber weder die großen Probleme angeht noch Visionen für Europas Zukunft entwickelt. Die nächste Regierung muss europapolitisch mutiger sein. Unser Ziel ist eine Regierungskoalition, die die großen Aufgaben angeht und im Zweifel auch mit einzelnen Partnern vorangeht.
Die Handlungsfähigkeit der EU zu stärken und ihre Entscheidungen zu demokratisieren ist uns ein gemeinsames Anliegen.
Die Sondierungen starten. Am wahrscheinlichsten gilt derzeit die Ampelkoalition. Steht diese für eine Neuausrichtung der deutschen Europapolitik?
Ich denke, es gibt einige Gemeinsamkeiten, die für eine Neuausrichtung sprechen.
An welche Gemeinsamkeiten denkst du? Wo siehst du das europapolitisch Verbindende?
Gemeinsamkeiten haben wir bei der institutionellen Verfasstheit der EU. Die Handlungsfähigkeit der EU zu stärken und ihre Entscheidungen zu demokratisieren ist uns ein gemeinsames Anliegen. Ich sehe eine Unterstützung für die Gemeinschaftsmethode, also weg vom Merkel’schen exklusiven Intergouvernementalismus, dem Regieren über die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. Bei der SPD sehe ich hier zumindest auch eine gewisse Offenheit. Ich wünsche mir, dass wir bei der institutionellen Verfasstheit der EU etwas erreichen, auch mit Blick auf transnationale Wahllisten.
Wie sieht es bei der europäischen Migrationspolitik aus?
Bei der Migrationspolitik ist es nicht ganz so eindeutig wie bei den institutionellen Fragen. Auf dem Papier gibt es durchaus Schnittmengen. Gerade wenn es darum geht, eine moderne Einwanderungspolitik zu schnüren, kann man die FDP als Partner gewinnen. Schwieriger wird es aber, wenn es grundsätzlicher darum geht, eine humane Asylpolitik umzusetzen und das auch weil hier eine neue deutsche Asyl- und Einwanderungspolitik nicht ausreichen wird, um daraus eine neue EU-Politik zu machen. Da habe ich noch große Fragezeichen.
Ich sehe noch großes Konfliktpotenzial, wenn es darum geht, die notwendigen europäischen Infrastrukturmaßnahmen für ein Schienennetz und für Erneuerbare Energien anzugehen.
Wo siehst du die größten Trennlinien?
Ich sehe noch großes Konfliktpotenzial, wenn es darum geht, die notwendigen europäischen Infrastrukturmaßnahmen zum Beispiel für ein Schnellzugnetznetz und für Erneuerbare Energien anzugehen. Und diese nicht nur in Sonntagsreden zu fordern, sondern montags auch im großen Maßstab zu finanzieren. Die maßgebliche Frage lautet jetzt: Wie stellen wir eine Investitionsfähigkeit der EU Mitgliedstaaten sicher und wie bringen wir europäische öffentliche Güter voran? Da sehe ich noch große Divergenzen mit der FDP.
Zum Thema Investitionen gehört auch der Recovery Fund. In nicht zu ferner Zukunft wird die Entscheidung anstehen, ob gemeinsame europäische Investitionen, wie es der Recovery Fund derzeit ermöglicht, verstetigt und über gemeinsame europäische Kredite und Steuern finanziert werden. Siehst du hier mit der FDP, die für die Rückkehr zum Europäischen Stabilitätspakt steht, einen solchen Richtungswechsel kommen?
Schwierig! Die FDP steht bei dieser Frage Kanzler Kurz näher als Präsident Macron, obwohl die FDP und Macrons La République en Marche im Europaparlament in der gleichen Fraktion sitzen, in der liberalen Parteienfamilie. Ich hoffe, dass sich die FDP der Realität stellt: Wenn wir jetzt sofort zum knallharten Sparkurs zurückgehen, dann werden wir uns in Europa in eine Rezession reinfräsen. Das kann man unserer Wirtschaft in Europa einfach nicht antun.
Ich hoffe, dass wir für die Modernisierung Europas gemeinsame Wege der Finanzierung finden, damit die Digitalisierung, die Infrastruktur für den Klimaschutz wirklich europäisch geleistet werden kann.
Frankreich hatte ja immer den Wunsch, in Berlin einen proaktiveren Ansprechpartner für gemeinsame europapolitische Initiativen zu haben. Glaubst du, dass mit der neuen Bundesregierung da mehr Schwung reinkommen könnte?
Ich hoffe es! Ich hoffe wirklich, dass wir in den Koalitionsverhandlungen nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa eine gemeinsame Vision erarbeiten. Eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, die sich permanent gegenseitig blockiert, indem man sich dann im Rat enthält und vieles aufhält, bringt uns nicht weiter. Ich hoffe, dass wir davon wegkommen. Das war ja das Lähmende an der Großen Koalition, dass sie häufiger verhindert hat als zu initiieren. Ich hoffe wirklich, dass Deutschland mit der neuen Regierung neuen Schwung in die EU bringen wird. Zum einen, was die institutionellen Fragen betrifft: Übergang von Einstimmigkeit zu qualifizierter Mehrheit im Rat und Stärkung des Europäischen Parlaments. Zum anderen in Punkto Handlungsfähigkeit etwa bei Asyl und Migration oder Verteidigung. Außerdem hoffe ich, dass wir für die Modernisierung Europas gemeinsame Wege mit guten Rahmenbedingungen für eine CO2-freie Wirtschaft und deren Finanzierung finden, damit die Digitalisierung, die Infrastruktur und die neuen Technologien für den Klimaschutz wirklich europäisch geleistet werden kann. Es reicht nicht, dies allein national anzupacken. Wir müssen europäisch vorgehen. Wenn wir den Solarstrom aus Spanien nach Deutschland bringen wollen, dann brauchen wir eine europäische Energie-Infrastruktur. Und die muss finanziert werden.
Du setzt dich schon sehr lange für das europäische Projekt ein. Du bist seit 2018 europapolitische Sprecherin im Bundestag, davor warst du Abgeordnete im Europäischen Parlament. Welches sind für dich persönlich die drei wichtigsten europapolitischen Prioritäten für die nächsten Jahre? Und welche Chancen siehst du, diese mit einer neuen Bundesregierung auch wirklich anzugehen?
Nummer 1 ist ein sehr ambitionierter Green Deal, dafür braucht es starke Investitionen und rechtliche Rahmenbedingungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien, in der die Kernenergie kein Teil sein kann, eine Umstellung bei Verkehr, Landwirtschaft und Industrie, eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft, neue Wege des Bauens - die Vorschläge sind auf dem Tisch und jetzt geht es um die Umsetzung!
Nummer 2 ist Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU stärken. Dafür muss das Kuscheln mit Demokratiezerstörern wie Orban und Co. ein Ende finden.
Nummer 3 ist eine strategische Souveränität Europas auch auf globaler Ebene. Von der Digitalisierung über Gesundheit bis zu den klassischen außenpolitischen Bereichen. Ich wünsche mir, dass Europa sich eine internationale Handlungsfähigkeit erarbeitet, die es ermöglicht, unsere europäischen Interessen auch wirklich zu vertreten.
Apropos europäische Souveränität: Frankreich will sich während seiner EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 für eine Vertiefung der europäischen Verteidigungspolitik einsetzen. Welche Akzente erwartest du hier von der neuen deutschen Bundesregierung?
Wir wollen mehr Synergien im Verteidigungsbereich schaffen. Es hängt dabei aber immer vom Wie ab. Per se sagen wir: Im Verteidigungsbereich brauchen wir mehr Synergien, mehr Kooperation, mehr Integration. Ich glaube nur, da steckt der Teufel im Detail. Das gilt zum Beispiel für das deutsch-französisch-spanische Future Combat Air System (FCAS), aber auch für die EU Battlegroups, die auf dem Papier seit Jahren existieren aber nie zum Einsatz gekommen sind. Das zeigt, dass Papiertiger nicht ausreichen, wir brauchen hier den politischen Willen für echte Synergien und nicht ein Aufblasen der Rüstungsindustrie.
Frankreich hat wie schon erwähnt ab Januar 2022 die EU-Ratspräsidentschaft inne und braucht Deutschland, um die EU in einigen Bereich nach vorne zu bringen. Du kannst natürlich nicht in die Glaskugel schauen, aber wie ist deine Einschätzung, wird Deutschland mit einer neuen Bundesregierung ins neue Jahr gehen?
(lacht) Das weiß ich nicht, aber ich hoffe es, weil alles andere hohe Kosten für Europa hat.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Franziska Brantner ist Parlamentarische Geschäftsführerin und Europapolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag
Das Interview führte Dr. Christine Pütz, Referentin Europäische Union der Heinrich-Böll-Stiftung